Zu Beginn dieses Aufenthaltes wollte ich unbedingt ein Live Konzert erleben. Doch es wurde ein akustisches Erlebnis…
Irgendwann Anfang März fragte mich ein Kollege, ob ich Lust hätte, mit in ein Konzert zu gehen, die Band Boyce Avenue sollte mir eigentlich gefallen, denn die würden fast nur akustische Musik spielen. Außerdem sei das eine d e r kommenden Bands. Das hätte ich eigentlich misstrauisch machen müssen, da die beiden Begriffe „akustische Musik“ und „angesagte Band“ in den vergangenen 40 Jahren Popmusik noch nie zusammen gepasst haben. Aber erstens lag der Eintrittspreis nur bei 18,50 Pfund und zweitens sollte das Konzert in „The Arches“ stattfinden, und da wollte ich sowieso mal rein. Also sagte ich zu.
Das Arches liegt unter dem Bahnhof. Der befindet sich auf einem Viadukt, der rund 15 Meter hoch, einhundert Meter breit und mehrere hundert Meter Lang ist. Oben liegen die Gleise, darunter ist eine ganze Menge Platz für riesige Tunnelgewölbe aus Backstein. Dort passt ein Parkhaus hinein, sehr viele Geschäfte und Pubs sowie eine Mischung aus Galerie, Club, Bar und eben einer Konzerthalle der besonderen Art. Da ich ganz in der Nähe des Bahnhofs wohne, hatte ich das Arches ziemlich bald entdeckt und beschlossen, dort einmal eine Veranstaltung zu besuchen. Da war mir Boyce Avenue auch recht.
Am 18. Mai um sieben Uhr abends sollte es losgehen, also sind mein Kollege und ich um halb sieben dorthin gegangen, damit wir einen brauchbaren Platz finden können. Außerdem wollte ich den Musikern ein wenig auf die Finger schauen und deshalb nicht zu weit von der Bühne entfernt stehen. Als wir dort ankamen, konnte ich lernen, dass zwischen deutschen und schottischen Konzertveranstaltern ein großer Unterschied besteht: In Deutschland bedeutet die auf dem Ticket gedruckte Zeit denjenigen Zeitpunkt, an dem die Rockmusiker wieder nüchtern genug sind, um auf die Bühne getragen zu werden. Hier in Schottland bedeutet es, dass man in die Halle eingelassen wird. Und dann dauerts…
Wir hatten also eine Menge Zeit, um uns den Veranstaltungsort anzusehen. Und das sah alles ziemlich cool aus. Das Arches besteht aus etlichen Tonnengewölben aus Backstein, eins ist etwa 70 Meter lang, von dort gehen nach Rechts und Links einige kürzere Gewölbe ab. In einem waren Garderobe und WCs untergebracht, in einem anderen die Bar, in die niemand ohne ein spezielles Band hineingelangt, das ihn oder sie als volljährig ausweist [hatte ich ein Glück, dass ich meinen Führerschein mithatte, sonst hätten die mir das n i e geglaubt], und in einem Gewölbe schließlich die Bühne. Die allerdings war kaum zu erkennen, weil dieser Tunnel vom Boden bis zur Decke mit Kunstnebel geflutet war, von der Bühne aus rot hinterleuchtet.
Irgendwann gegen acht Uhr kam ein junger Mann auf die Bühne, sagte artig seinen Namen und fing an, auf einer akustischen Gitarre zu spielen und zu singen. Das machte er prima und das war schon mal ein guter Anfang. Allerdings wurde meine Befürchtung der ersten Beobachtung bestätigt: So cool diese Tonnengewölbe aussahen, die Akustik darin war furchterregend dröhnend, selbst dieser Solist war kaum zu verstehen.
Nach einigen selbst geschriebenen Stücken und höflichem Applaus ging er wieder, dann wurde die Bühne für die Boyce Avenue vorbereitet. Und dann – nach weiteren zwanzig Minuten – kamen sie endlich.
Und die Hölle brach los!
Mir war schon vorher aufgefallen, dass alle herum erstens Mädchen waren und zweitens irgendwo zwischen 15 und 17 Jahre alt. Als dann die drei Musiker kamen, fingen alle im Gewölbe an zu kreischen, so laut und hoch es ging. Mir fuhr ein Blitz in die Ohren, und dann noch einer, und es hörte nicht mehr auf zu blitzen. Der Sänger nahm sein Mikrophon – KREISCH – er kratzte sich am Kopf – KREISCH – er sagte Hello GlasKREISCHgow, er machte einfach nix – KREISCH!!!!!
Die drei Jungs von Boyce Avenue und ihre beiden Begleitmusiker an Bass und Schlagzeug fingen trotzdem an zu spielen, über den Lärm von unten hinweg. Und das taten sie wahnsinnig laut, kein Wunder, sie mussten schließlich das Gebrüll der irrsinnigen Mädchen übertrumpfen. Und da sie wesentlich lauter waren als der Solist zuvor, dröhnte alles umso mehr.
Und mitten drin stand ich und fragte mich bereits nach zwei Minuten, wie ich da raus käme. Ich will jetzt von niemandem hören, dass ich in meinem Alter nicht mehr in Konzerthallen gehöre, denn das halte ich für schlichten Unfug. Tatsache ist, dass es vor zwanzig Jahren auch laut war, aber da wollten die Zuhörer noch zuhören und mussten daher nicht übertönt werden.
Ich konnte nichts mehr hören, aber sehen konnte ich auch nichts mehr, denn fast alle hielten ihre Handys hoch, um mit deren Videofunktion das gesamte Konzert aufzunehmen, hunderte Arme mit einem Minibildschirm. Vielleicht auch deshalb, um irgendwann zuhause mal zu hören, was sie da niedergeschrieen hatten. Jedenfalls war es ein gespenstisches Bild: Da gehen alle in ein Konzert, echt und live und jetzt-in-diesem-Moment und alles in Farbe – um das dann auf einem wenige Zentimeter großen Bildschirm anzusehen, das junge ekstatische Gesicht beleuchtet vom Video.
Mitten im dritten Song bin ich mit meinem Kollegen ganz nach hinten gegangen, und dann noch weiter weg in die Bar im nächsten Gewölbe; wir haben uns mit meines Führerscheins Hilfe ein Bier geholt und von dort aus zugehört und geklönt. Hier ging es auch wieder. Außerdem haben wir ein wenig mit Schotten geplaudert, denen das Ganze auch zu dröhnend war. Dabei haben wir viel gelacht, unterm Strich also ein gelungener Abend.
Von der Musik habe ich von hier aus auch hören können, dass sich die Band nicht entscheiden kann, ob sie lieber U2 oder eine Boygroup sein möchte, irgendwas dazwischen war eher seltsam anzuhören. Akustisch wie versprochen waren sie auch nicht, das meiste war mit E-Gitarren. Ich habe versucht, von meinem Kollegen wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen das Geld wieder zu bekommen, hat aber nicht geklappt.
Aber der Abend war dennoch nicht umsonst, denn nun weiß ich endlich, warum die Beatles und Take That aufgehört haben. [Ja ja, schon klar, ein Frevel, diese beiden zusammen in einem Satz zu schreiben. Aber das Prinzip dürfte bei beiden Bands dasselbe sein]: Beide hatte schlicht die Ohren voll von dem ganzen Gekreische, die waren taub, die waren entnervt, die konnte sich das viele Ohropax nicht mehr leisten: Nix wie runter von den Bühnen dieser Welt und in ein englisches Landgut inmitten eines riesen Parks ziehen und endlich wieder Ruhe haben. Nach nur einem Abend in diesem viel-und-hochstimmigen Gebrüll kann ich sie bestens verstehen.