Volker Kienast Äthiopien Axum Kunstschätze
Kostbarkeiten unter dem Wellblechdach

Das haben Sie buchstäblich noch nicht gesehen: Die meisten aller Länder sind den Reisenden von heute schon aus den Medien bekannt. Wenn sie dann vor Ort sind, sehen sie Bilder, die sie schon kennen. Anders in Äthiopien, das als Reiseland nicht gerade berühmt ist. Dabei bietet das Land am Horn von Afrika eine großartige frühchristliche Kultur und faszinierende Landschaften. Wer ein wenig auf Komfort verzichten kann, entdeckt wahrlich Neues.

Die kleine Reisegruppe steht vor einem mannshohen Zaun, der ohne weiteres zu überwinden wäre. Dahinter befindet sich eine Blechkiste auf Ständern, die sonst in der Lüneburger Heide zu finden ist und in der drei Bienenkörbe bequem Platz fänden. Nur sind wir nicht in der Lüneburger Heide, sondern in der äthiopischen Stadt Axum. In der gelb angestrichenen Blechkiste mit Wellblechdach befinden sich auch keine Bienen, aber das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wir wissen nur, dass auf dem Gelände dieses Klosters einige atemberaubende Kunstschätze zu sehen sein sollen.

Ein äthiopischer Priester kommt um die Ecke geschlendert, er hat es nicht eilig. Die weihevolle Erscheinung mit der weiten Soutane und der turbanartigen Mütze werden komplettiert durch eine ultracoole Sonnenbrille, wie sie Piloten in amerikanischen Spielfilmem auf der Nase haben. Alles in allem eine prachtvolle Erscheinung. Er geht zum Bienenkasten, nickt uns Zaungästen kurz zu, nestelt an einem kleinen Hängeschloss und klappt die Vorderfront herunter. Was wir zu sehen bekommen, lässt uns vor Überraschung scharf einatmen: Einige gold- und edelsteinblitzende Kronen, die alle mehrere hundert Jahre alt sind. Unsere Reiseleiterin erklärt uns, dass dies hier die Originale sind. Kaum zu glauben, dass sie fast ungesichert gegen Wetter und vor allem vor Dieben ausgestellt werden; im Rest der Welt hätte man darum ein Hochsicherheitsmuseum gebaut, man denke an die Kronjuwelen in London.
Und kaum zu glauben, dass es solche Schätze ausgerechnet in Äthiopien gibt, einem Land, das in den Medien seit Jahren vor allem durch hungernde Menschen und Bürgerkriege bekannt ist, aber nicht durch eine hohe christliche Kultur und fantastische Landschaften, durch die wir seit einigen Tagen reisen.

Währenddessen steht der Priester neben dem Blechkistenmuseum und hält eine Bibel aus Ziegenleder hoch, die – wie uns erklärt wird – etwa 1400 Jahre alt ist. Wieder leicht ungläubiges Gekicher. Äthiopien ist reich an Kunstschätzen, aber zu arm, um diese in einer repräsentativen Form der Öffentlichkeit zu zeigen. So haben wir Besucher die Gelegenheit, mit einigen Abstrichen am Reisekomfort ein Land zu erleben, dessen Kunst und Architektur in vielen Büchern beschrieben sein müsste, es aber nicht ist.

Beispielsweise auch die Felsenkirchen von Lalibela im Norden Äthiopiens. Die Stadt ist in Afrika als das zweite Jerusalem bekannt, in Europa so gut wie überhaupt nicht. Die Kirchen bestehen aus rotem Sandstein und die Menschen haben sie vor mehr als achthundert Jahren senkrecht in den Felsen geschlagen. Beginnend mit einem rund vier Meter breiten und fünfzehn Meter tiefen Graben, haben sie in den verbleibenden Mittelblock die Kirchen eingemeißelt; inklusive Fenstern, Innensäulen und Stuckarbeiten. Zwölf Kirchen gibt es, deren Vorhöfe mit Tunneln verbunden sind. Zum Osterfest und zum Neujahrsfest Ende Januar – in Äthiopien gilt der gregorianische Kalender – versammeln sich hier mehr als zwanzigtausend Pilger. Und wieder fragen wir Besucher uns, warum solche Dinge in Deutschland nicht bekannt sind.

Volker Kienast Äthiopien Lalibela Felsenkirche
Unbekannte Meisterwerke der Architektur

Die Vielfalt der Kunst ist gut über das rund zweitausend Meter hohe Hochland von Äthiopien verteilt, denn die Könige des Landes zogen jahrhundertelang einer damals wie heute wichtigen Ressourcenquelle hinterher: Dem Wald! Sie brauchten Holz zum bauen, brennen und kochen. Irgendwann war der Weg zur Quelle durch die voranschreitende Abholzung so weit geworden, dass ein Umzug der königlichen Residenz nötig wurde. So entstanden über eine Zeitspanne von etwa zweitausend Jahren fünf Königsstädte. Die bislang letzte heißt Addis Abeba.
Während wir mit einem vierradgetriebenen Wagen über die Pisten des Landes von Stadt zu Stadt fahren, freuen wir uns auf eine reinigende Dusche am Abend, die uns vom Staub in Haut und Haaren befreien wird. Doch die Landschaft entschädigt für das Gerüttel: Der Ostafrikanische Grabenbruch durchzieht das Land mit einem weiten System aus mehreren Einschnitten, die vier- bis sechshundert Meter tief und dreißig bis fünfzig Kilometer breit sind. Entstanden sind sie vor 200 Millionen Jahren, als die afrikanische Kontinentalplatte durch unterirdische Prozesse langsam auseinander gezogen wurde. Wer auf der oberen Ebene der Landschaft steht, hat einen faszinierenden Blick in den Graben und auf die erodierten Vulkankegel, die von den Folgen der Bildungsgeschichte zeugen.

Auf dem Weg hält der Wagen an einem Feld. Auf einem roh gezimmerten Stand steht ein fünfzehnjähriges Mädchen. Sie verscheucht mit einer knallenden Peitsche die Vögel, die vom familiären Feld das Saatgut und die Früchte schnäbeln. Sie erzählt, dass sie diese Arbeit am Nachmittag verrichtet und am Vormittag zur Schule geht. Ihr Bruder hat den umgekehrten Rhythmus. Sie strahlt wie alle Menschen in Äthiopien mit einem Lächeln, dass zunächst gar nicht zu der vom Besucher empfundenen Armut passen will. Doch die Menschen lachen trotzdem und sind offen zu den Touristen. Wer auf der Strecke anhält, wird in kurzer Zeit von Bauern und Hirten umringt, die auf eine freundlich neugierige Art „Hallo“ sagen wollen. Kein Grund, sich unwohl zu fühlen, selbst wenn einem bewusst wird, dass der Preis der mitgebrachten Kamera eine äthiopische Bauernfamilie ein Jahr ernähren könnte.
Fazit: Wer sich für atemberabende Landschaften, christliche Kulturschätze und freundliche Menschen interessiert, sollte das Land am Horn von Afrika auf die persönliche Reiseliste setzen.

Volker Kienast Äthiopien Grabenbruch
Land des Lächelns am Horn von Afrika

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